Aus dem Tagebuch einer Dirndl

Aus SteinschalerWiki
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7. Juni 2007, 5.00 Uhr morgens
Ich weiß zwar, dass mein Ziehvater (Johann Weiß, für alle, die es nicht wissen) ein extremer Frühaufsteher ist, aber heute scheint alles doch ein wenig anders zu sein, als sonst. Ich werde aus meiner Dirndlgruppe, in der ich mich immer sehr geborgen und wohl gefühlt hatte, herausgeholt und in ein Auto verladen. Was soll das? Wohin geht es? Nach einer dreiviertelstündigen Fahrt endlich Ruhe. Die Türe öffnet sich und ich sehe wieder Tageslicht. Die Luft fühlt sich ein wenig frischer an, ich bin wohl im Steinschaler Dörfl (hoch am Berg) angekommen. Aber was soll ich hier? Ich werde ziemlich lieblos in einem großen Saal in einer Ecke abgestellt und bekomme noch ein paar Tropfen Wasser. In dem Raum herrscht geschäftiges Treiben. Viele Tische und Sessel werden aufgestellt und gedeckt. In der Mitte der Tische werden wunderschöne Pfingstrosen in eine Vase gestellt und jeder Tisch erhält einen Namen. Es sind Namen von Bäumen – allerdings kann ich keinen Tisch mit dem Namen „Dirndl“ oder „Cornus Mas“ finden.

Bis zum Nachmittag tut sich in dem Saal nichts, aber ich höre Musik und die Stimmen vieler Menschen. Offensichtlich wird etwas gefeiert. Schade, dass ich nicht sehen kann, was da vor sich geht. Zu meiner größten Überraschung rauscht eine Solitärbiene an und findet an mir gefallen. Sie erzählt mir, dass eine Hochzeit stattfindet und viele Gäste gekommen sind, um mit dem Hochzeitspaar zu feiern. Um sechs Uhr Abend strömen endlich alle Gäste in den Saal. Es gibt Essen, Getränke und Musik. Na ja, alles nichts für mich, aber was verstehen Menschen schon von den Vorlieben einer Dirndl?

8. Juni 2007, 10.00 Uhr
Alle haben sich zum Frühstück eingefunden und ich hoffe sehr, dass ich nun erfahre, warum ich bei diesem Fest dabei bin. Endlich holt mich mein Ziehvater aus der Ecke und bringt mich zu dem Hochzeitspaar. Ich ahne Schlimmes. Soll ich etwa ein Hochzeitsgeschenk für „Nicht-Dirndltaler“ werden? Und genau das geschieht. Mein Ziehvater überreicht mich und wünscht Martina und Gerhard (so heißen die beiden) Glück und Freude miteinander und mit mir.

12. Juni 2007, irgendwann
Jetzt stehe ich nach einer längeren Autofahrt in einem sehr kleinen Garten. Schaut zwar ziemlich naturnah aus, kann aber mit meinem Heimatgarten in seiner wilden Pracht nicht mithalten. Was erwartet mich hier, fern von meinem Ziehvater und den Dirndl-Schwestern und -Brüdern? Gibt es hier Bienen? Wie schmeckt der Boden? So viele offene Fragen.

14. Juni 2007, vormittags
Oje, ich fürchte jetzt wird Martina aktiv und will mich eingemeinden. Wie das werden wird? Ich beobachte ihre Anstrengungen, mit einem Spaten eine Grube für mich auszuheben, sehr bemüht! Dann zieht sie mich aus meiner Kinderstube (andere sagen „Pflanztopf“ dazu) und stellt mich doch allen Ernstes in einen Kübel mit kaltem Wasser. Ich erleide fast einen Kälteschock. Diese Frau hat scheinbar keine Ahnung vom zärtlichen Umgang mit einer Dirndl. Nach einer (gefühlten) Unendlichkeit nimmt sie mich aus dem Kübel und setzt mich in die fremde Umgebung. Die zuvor ausgehobene Erde schaufelt sie auf meine Wurzeln und beginnt sie rund um meinen zarten Stamm festzutreten, na warte!

September 2007
Ich habe lange keine Eintragungen in mein Tagebuch gemacht, denn es geht mir gar nicht gut. Die Erde ist so ganz anders als ich es aus dem Pielachtal gewöhnt bin und zu allem Überdruss sehe ich weit und breit keine anderen Dirndlbäume. Was ist das für eine Gegend? Von meinem Standort aus kann ich jede Menge Weinstöcke sehen, aber mit diesen Zeitgenossen werde ich mich sicherlich nicht anfreunden.

Dezember 2007
Meine Zehen (Wurzeln) sind so kalt und ich fürchte, diese Kälte und Trockenheit werde ich nicht überstehen.

März 2008
Endlich gibt es wieder ein wenig mehr Sonne. Martina bemüht sich sehr um die Pflanzen in dem kleinen Gärtchen, sie spricht sogar mit uns allen. Aber was kann das gegen das Heimweh nach dem Pielachtal ausrichten?

Juni 2008
Meine beiden Menschen feiern ihren ersten Hochzeitstag und statten mir aus diesem Grund einen ganz besonders herzlichen Besuch ab. Ich bin allerdings noch immer nicht so richtig im Weinviertel angekommen. Ich überlege, ob ich diese Welt einfach verlassen soll.

September 2008
Es geht mir noch immer nicht sehr gut, obwohl meine Wurzeln ein Umfeld gefunden haben, das ihnen scheinbar schmeckt. Ich muss gestehen, dass ich durchaus nett behandelt werde obwohl Martina zwischendurch Drohungen ausspricht wie, „wenn du nicht wachsen willst, dann kommst du auf den Kompost“. Vielleicht raffe ich mich doch auf und sammle meine Kräfte für einen kleinen Wachstumsschub im nächsten Frühling?

März 2009
Es ist ein Freudenfest, es gibt in der Umgebung Dirndl-Freunde und -Freundinnen, die mir über die eifrigen geflügelten Lebensspender Mut zusprechen und mich allmählich ankommen lassen. Die Wildbienen statten mir unzählige Besuche ab, schließlich bin ich die erste, die ihre gelbe Blütenpracht anbietet. Übrigens habe ich mit dem Hochzeitspaar Frieden geschlossen.

Mai 2022
Ich bin ein schöner und großer Baum geworden. Wenn ich die Tagebucheintragungen der letzten 13 Jahre lese, kann ich mir nicht mehr vorstellen, jemals wo anders als im Weinviertel gelebt zu haben. Und ich bin ziemlich sicher, dass die hier nun öfter vorkommenden Dirndln einen positiven Beitrag zur Erhaltung des (so wichtigen) ökologischen Gleichgewichts leisten. Wahrscheinlich sind viele von ihnen meine Kinder und Enkeln und Urenkeln und…